Der Weg der Wirklichkeit nach der kaschmirischen Tradition | August 2024

Die Wirklichkeit zu kultivieren ist wie eine Gottheit zu ehren. Eine solche absolute Gottheit erfordert es, das eigene Herz, den Geist und den Körper zu leeren, um sie transparent und wahrhaftig werden zu lassen.
Es geht darum, die eigenen Überzeugungen, Reaktionen, Strategien und  seine Sicherheiten zu opfern, um unseren inneren Tempel zu entrümpeln.
Dann kann die höchste Wirklichkeit leuchten und wir können die wahre Fülle inmitten der Leere schmecken.

Der Weg der Umkehr
Anstatt uns zu beklagen, begegnen wir dem Leben, so wie es sich uns zeigt. Wir sind bereit, uns den Herausforderungen zu stellen und nicht zu fliehen.
Jede Herausforderung ist eine Lehre, die die Kraft hat, unseren Geist zu öffnen und unser Herz zu vertiefen.
Das Leben ist keine Aneinanderreihung von Problemen, die es zu lösen gilt, sondern eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, das Ultimative hier und jetzt auszukosten.

Wir wenden unsere Beschwerden an ihren eigentlichen Adressaten - uns selbst.
Sie enthalten wertvolle Botschaften, die unsere Überzeugungen, unsere Ängste und das, woran wir uns festhalten, offenbaren und die uns daran hindern, frei zu sein. Unsere Beschwerden sehen die Realität entweder als eine Bedrohung, die es abzuwehren gilt, oder als ein Problem, das wir loswerden müssen.
Sie sind eine große Verschleierung, die uns daran hindert, die höchste Schönheit und die absolute Richtigkeit zu erkennen.
Es ist unmöglich den Nektar der Wirklichkeit zu kosten, wenn man sich verteidigt oder sich weigert mit dem Fluss zu gehen.

Es ist verrückt und anmaßend mit dem Leben zu verhandeln. Doch genau das tun wir fast ununterbrochen, anstatt mit seiner unendlichen Intelligenz zu kooperieren, die weit über den Rahmen unseres konditionierten Denkens hinausgeht.
Wir versuchen diese Macht zu kontrollieren und zu beherrschen, obwohl es darum geht, zu erkennen, dass wir nicht vom Strom des Lebens, der uns immer wieder an die Wahrheit der Einheit erinnert, getrennt sind. Anstatt zu kämpfen und uns zu verteidigen, können wir also zuhören, beobachten und die einzigartige Art und Weise bewundern in der sich die Wirklichkeit durch die unendliche Kreativität ihrer Formen enthüllt.

Der Weg des Zuhörens, des Beobachtens
Alles interessiert uns, wir suchen nicht mehr nach Bequemlichkeit um jeden Preis. Wir wollen alle Geschmäcker des Lebens auskosten, die Bitterkeit der Traurigkeit, die Intensität des Zorns, die Dichte der Wut, das Feuer der Freude. Wir wollen unsere Emotionen, unsere Reaktivität und unsere Unruhe direkt erfahren. Wir lassen die Emotionen leben, ohne uns im Intellektualisieren und in der Rationalisierung dessen, was wir fühlen zu verlieren. Das reine Erleben interessiert uns. Haben wir keine Angst davor die Wahrheit der Empfindungen zu spüren.

Wir sind vom menschlichen Abenteuer in seiner ganzen psychischen, physischen, emotionalen und energetischen Bandbreite begeistert. Wir wollen es unmittelbar erleben, aus erster Hand kennenlernen. Wir scheuen keine Erfahrung, auch wenn sie noch so konfrontativ und intensiv ist. Wir lassen uns vom Leben an unsere Barrikaden führen und an unsere Grenzen bringen.
Es versucht uns dazu zu bringen, unsere illusorischen Sicherheiten und Identifikation mit dem oberflächlichen Ich loszulassen, um uns zum Kern unseres Selbst zu führen. Zur Begegnung mit der ultimativen Perle, die in unserer Tiefe leuchtet.

Jeden Tag lassen wir die Macht der mentalen Dynamiken über unseren Geist sich ein wenig mehr auflösen, indem wir das Sitzen in der Tiefe des Seins kultivieren.
Unser Blick klärt sich, unsere Klarheit verfeinert sich. Das Wahre erscheint, das Illusorische verflüchtigt sich.

Der Weg der Vertikalität
Durch regelmäßiges Sitzen entwickelt man Stabilität. Der Atem verinnerlicht sich, wird vertikal und beruhigt sich auf dem Weg der Mitte (Suṣumṇā). Unsere Neigung zum Festhalten und zur Kontrolle wird in dem Maße leichter, wie sich unsere Fähigkeit vertieft uns in der Tiefe des Seins niederzulassen. Die vertikale Achse, die durch den Körper verläuft, wird lebendig.
Sie verbindet uns mit dem Himmel und der Erde und dehnt sich grenzenlos bis an die Ränder des Kosmos aus.
Dieses Erleben der Achse offenbart uns, dass nur der Augenblick existiert. Unsere Hauptpraxis besteht darin, uns mit seiner Erscheinung in einer Spontaneität auszurichten. die immer mehr von jeglicher willentlicher Intervention befreit ist.
Wenn der Geist uns aus dem Takt bringt, indem er unsere Aufmerksamkeit in seine Projektionen, sein Grübeln oder seine Sorgen mitnimmt, werden wir uns sofort unseres Ungleichgewichts bewusst.
Die nächste Ausatmung führt uns in die Tiefe des Seins zurück und verankert uns. Wenn der Geist, das Herz und das vitale Zentrum wieder ausgerichtet sind, breitet sich die Einatmung in den mittleren Weg aus und strahlt in den Raum. Ein unerschütterlicher Sitz ermöglicht es, die vertikale Achse zu bekräftigen.
Diese zunehmend stabile und tiefe innere Positionierung beseitigt Zweifel und Zögern. Unsere Gesten werden präzise und effizient, auf das Wirkliche abgestimmt.
Wir fühlen uns von Kopf bis Fuß ausgerichtet und ganz. Der Verstand läuft mit den Füßen. Diese wiedergefundene innere Einheit sorgt für eine immense Entspannung im gesamten Organismus.
Wir erleben die Freude der Nicht-Anstrengung.

Der Weg der Hingabe
Wir lernen uns auf den vertikalen Atem einzustimmen, egal in welchem Kontext. Das Mantra Hamsa, Ich bin, schwingt auf subtile Weise in unserem ganzen Wesen, mit jedem Ein- und Ausatmen, ohne Unterbrechung. In seiner Wirkung entfaltet sich das Herz und lässt sich von den Ereignissen des Lebens berühren, ohne sich noch länger zu schützen.
Sein einziger Wunsch ist es dann in eine immer größere Vertrautheit mit der höchsten Wirklichkeit einzutreten. Es sehnt sich nur noch danach, den subtilen Nektar zu kosten, der die gesamte Manifestation durchdringt.
Es ist ihm bewusst, dass es keinen anderen Weg als die Hingabe gibt. Der geringste Zweifel, die geringste Abwehrbewegung verringert die Vertrautheit mit der Essenz und es erträgt es immer weniger, von der Glückseligkeit, die Vertrautheit mit sich bringt, abgeschnitten zu sein.
Wir verstehen immer deutlicher, dass die Realität nur unsere volle Zustimmung erfordert. Unsere Aufgabe ist es, unsere Bewegungen der Inbesitznahme, des Widerstands und der Verweigerung zu lockern, um dem Wesen, das wir sind, zu erlauben, bis zum Maximum seiner Fähigkeiten und seines Talents zu erblühen. Wir kennen den großen kosmischen Plan nicht, wir können ihn uns vom Leben offenbaren lassen.
Wir bieten unser zusammengezogenes, willentliches, forderndes Ich dem großen Feuer der Wirklichkeit mit immer weniger Zögern und Befürchtungen an. Die Erfahrung dieser Opfergabe, die in jedem Augenblick erneuert wird, versetzt uns in den Raum und die Fülle unserer wahren Natur. Wir erkennen mit zunehmender Deutlichkeit, dass nur Widerstand den Mangel, die Unzufriedenheit, das Verschlossensein und die Isolation erzeugt.

Der Weg der Einheit
Die Fantasien des Verstandes haben ihre Anziehungskraft völlig verloren. Das Licht des Bewusstseins strahlt durch alle Formen hindurch, die Vielfalt vereinigt sich. Die physischen Augen verankern sich im Herzen, um die Welt zu berühren. Der Blick wird feinfühlig, er verliert seine Tendenz die Welt in einzelne Objekte zu zerlegen. Das Bedürfnis zu konzeptualisieren und zu objektivieren, endet, die Begriffe innen und außen schmelzen. Die Wirklichkeit wird nicht mehr durch die duale Sicht verschleiert, sondern die ursprüngliche Einheit erstrahlt. Das Vertrauen wird wahrhaftig und tief.
Wie könnte die Einheit, die alles enthält, was ist, auch nur den kleinsten Fehler begehen?
Der Glaube, dass wir eine vom Augenblick getrennte Einheit sind, erscheint uns als das, was es ist: eine Torheit. Eingetaucht in den Ozean der Einheit, begleiten wir das Auf- und Abschwellen der Wellen. Der Geist ruht. Von der Strömung getragen, verschmilzt unser Verlangen mit dem des Ozeans und wir genießen die reine Freude des Seins.